Ein Weihnachtsfest in der Urzeit
Eine Erzählung von Jürgen Funk
Rund fünftausend Jahre sind es nun her, daß einen Tagesmarsch nördlich des Müritz-Sees im Mecklenburger Land ein Trupp zottig-felliger Gestalten seine vier Zelte aufbaute. Es war der wärmste Platz in der Gegend, den sich die bärtigen Jäger für ihr Winterlager ausgesucht hatten - ein ebener sandiger Absatz am Südhang einer Hügelkette. Knapp unterhalb zog sich - und zieht sich heute noch - ein kleines Tal entlang. Nach Westen zu sich verengend führt es von dort ein Bächlein heran, das unweit des Lagers vorbeimurmelt und dann nach einigen Windungen gen Osten in das sich weitende Tal dem Blick entschwindet.
Ringsum an den Hängen herrscht Waldeinsamkeit. Doch zeigt der Talboden nur wenig Baum- und Strauchbewuchs. Denn an dieser Stelle wachsen besonders üppig nahrhafte Kräuter und saftige Zweigruten an flachbuschigen Krüppelweiden, weshalb hier sommertags zahlreich die Tierherden des Landstriches äsen. Da verschwinden Gras- und Kräuterblätter als auch die schmackhaften Jungtriebe der Gehölze in den fleißig kauenden Mäulern von Rindern, Elchen und sonstigen felltragenden Pflanzenliebhabern. Die Abenddämmerung ist heraufgezogen. Die Zelte sind nun fertig eingerichtet. Aufgeregtes Treiben herrscht auf dem Platz. Denn mittlerweile hat sich der gesamte Stamm eingefunden. Es soll heute die Wende zu den erneut höher steigenden Sonnenbögen festlich begangen werden. Die Männer legen sich einen Kopfputz mit Gehörn an, währenddessen sich die Frauen bemalte Lederbänder um die Stirn binden und mit bunten Ketten behängen. So geschmückt stellen sie sich mit Kindern und Alten um die Mitte des Platzes im Kreis auf. Ein älterer Mann mit eindrucksvollem Kopfschmuck, das ein Hirschgeweih krönt, tritt in die Mitte. Er verneigt sich in Richtung der untergehenden Sonne. Dann beginnt er, mit einem Holzstab ein Feuer zu entzünden. Er versetzt den Stab mit Hilfe einer um ihn gewundenen Bogensehne in rasend drehende Bewegung bis Bohrmehl in einer unterliegenden Brettvertiefung allmählich in Glut gerät. An der Handlung beteiligen sich alle, indem sie ihre Unterarme auf die Schultern der Nachbarn legen und die Mitte hüpftanzend umrunden, erst in die eine, dann in die andere Richtung - gleich wie der Holzstab. Die kleinen Kinder bilden eine Tanzreihe vor den Großen. Dabei singen sie im Takt ihrer Bewegung ein schlichtes, gedämpft klingendes Lied. Seine Töne schwingen in das Tal hinaus und die Hänge hinan, durchdringen die heraufziehenden Nebelstreifen und verschweben in der Ferne. Nun ist es soweit. Das Bohrmehl bildet eine kleine Glutmasse, und Funken stieben um den Stab herum. Der Alte gibt zweien ein Zeichen. Die lösen sich aus dem Kreis und tanzen in die Mitte. Es sind ein junger Mann und eine junge Frau. Sie sind das Paar, das im Stamm zuletzt geheiratet hat. Sie allein dürfen nun das Feuer mit Trockenlaub und Reisig entfachen. Sowie nun die Flammen hochlodern, halten alle Tanzenden inne, ihr Lied verstummt. Der Alte hebt seine Arme und schreitet so gegen alle vier Himmelsrichtungen, dabei die Geister des Himmels, der Erde und des neuen Lagerplatzes anrufend und um Beistand bittend. Darauf hebt das Tanzen neu an. Erst drehen sich alle einzeln in weiter Runde mit erhobenen Armen. Dann bilden sie wieder einen Kreis. Ihr Gesang klingt jetzt freudig und ausgelassen. Das junge Paar aber ist in ein Zelt gehuscht, um gleich darauf mit einem erlegten Hirsch am Feuer zu erscheinen. Sie stellen ein Bratgerüst auf und nachdem sich genügend Glut gebildet hat, wird das vom Jungmann erlegte Tier mit getrockneten Pilzen und Kräutern gefüllt und auf das Gerüst gesteckt, um zu garen.
Kurz darauf treten drei Frauen in den Lichtschein des Feuers. Sie haben gefüllte Krüge und Urhörner herbeigetragen. Das ist das Zeichen zur Beendigung des Tanzes. Im Nu sind die ersten Hörner mit angegorener Labsal aus Honigwasser mit Himbeerpulver gefüllt und kreisen in der Runde von Mund zu Mund. Bald ist das Fleisch fertig durcherhitzt und kann nun noch etwas roh verzehrt werden. Der Alte und das junge Paar teilen aus, wobei sie den Braten mit Feuersteinmessern zerlegen. Nebenbei wird die Decke des Tieres ausgebreitet. Darauf finden sein Gehörn und einige kostbare Innereien ihren Platz. Das alles ist für Sonne, Erde, Mond und Sterne sowie die Ahnen bestimmt. Am nächsten Tage werden sich alle mit der Gabe zu einem nahegelegenen Hügel begeben, um sie dort auf einem großen Steinblock abzulegen und den Verehrten anheimzugeben. Nach dem Mahle ist es nun stille im Lager. Das Sternenzelt hat sich schon längst aufgetan und zieht funkelnd seine Bahn. Die Schar ruht auf ihren Fellen und schläft wohlig ermattet dem Morgen entgegen.