Widar und Wali
Die beiden Götter Widar und Wali – oder auch Viðarr und Vali – werden gerne als Rachegötter bezeichnet. Die Rache war ein wichtiger Bestandteil germanischer Kultur und oft das zentrale Handlungsmotiv in den Sagas. Wir wollen uns in diesem Artikel daher etwas näher mit dem schweigsamen Gott und dem Einnächtigen befassen.
Widar
Widar, dessen Name der weithin Herrschende bedeutet, wird auch der schweigsame Ase genannt. Er ist „nach Thor der stärkste, und alle Götter verlassen sich auf ihn in allen Schwierigkeiten“ (Gylfaginning 28). Er ist der Sohn und der Rächer Odins. Nachdem dieser beim Ragnarök vom Fenriswolf getötet worden ist, eilt Widar herbei und stößt dem Wolf das Schwert in den Rachen.
Diese Tat wird mehrmals erwähnt. In der Völuspa Str. 55 heißt es:
Da kommt der mächtige Sohn Siegvaters,
Widar, wider den Wolf zu kämpfen;
Er stößt mit den Händen Lokis Sohne
Das Schwert in das Herz –
Und gerächt ist der Vater!
Anmerkung: Siegvater ist ein Name Odins und Lokis Sohn ist der Fenriswolf.
Im Wafthrudnismal Str. 53 antwortet der Reise Wafthrudnir auf die Frage Odins „was denn Odin zum Tod gereiche, wenn die Götter vergehen“:
Den Göttervater verschlingt dann der Wolf;
Widar wird`s rächen;
Die kalten Kiefer reißt er entzwei,
zu morden den Mörder.
Im Gylfaginning wird uns der Handlungsablauf etwas anders geschildert. Wir lesen dort (Str. 50):
„Der Wolf verschlingt Odin, und das wird sein Tod. Alsbald kehrt sich Widar gegen den Wolf und setzt ihm den Fuß in den Unterkiefer. An diesem Fuß hat er den Schuh, zu dem man alle Zeiten hindurch sammelt, die Lederstreifen nämlich, die die Menschen von ihren Schuhen schneiden, wo die Zehen und Fersen sitzen. Darum soll diese Streifen ein jeder wegwerfen, der darauf bedacht ist, den Asen zu Hilfe zu kommen. Mit der Hand greift Widar dem Wolf nach dem Oberkiefer und reißt ihm den Rachen entzwei, und das wird des Wolfes Tod.“
Die erste Art der Wolfstötung scheint uns mehr dem Ideal des Helden zu entsprechen, während die zweite volkstümlicher ist und an einen alten Volksbrauch (das Wegwerfen der Lederstreifen) erinnert, ähnlich wie der Brauch, den Verstorbenen die Fuß- und Fingernägel zu schneiden, damit diese nicht zum Bau des Schiffes Naglfar verwendet werden können. Es gibt tatsächlich eine bildliche Darstellung auf dem Steinkreuz von Gosworth in Cumberland, Nordwestengland (ca. 900 u.Z.), die einen Mann zeigt, der seinen Fuß in einen Wolfsrachen stellt, in einer Hand einen Speer hält und mit der anderen den Wolfsrachen nach oben zieht. Simrock hat in seinem Handbuch der deutschen Mythologie das Wegwerfen der Lederreste als eine religiöse Pflicht, ähnlich der des Nägelschneidens, gedeutet und den praktischen Sinn darin vermutet, daß Lederreste, die von reicheren Leuten weggegeben werden, noch von Ärmeren für Fußlappen verwendet werden könnten. Er verweist in diesem Zusammenhang auf den schottischen Glauben, der empfiehlt, ab und an einem armen Menschen ein Paar Schuhe zu schenken. Diese Tat würde dem Geber nach dessen Tod zu Gute kommen, dann müßte er nämlich über eine große, dornenbewachsene Heide schreiten und jener beschenkte Mensch würde ihm dort begegnen und ihm die geschenkten Schuhe zurückgeben.
Mich beeindruckt an der Geschichte vor allem, daß das Wort „Verschenken“ Teil einer schottischen (!) Sage ist.
Eine kurze Erwähnung wird dem Widar auch in der Lokasenna zuteil, jenem schwankhaften Spottlied, in dem Loki alle Götter, die in der Halle des Meerriesen Ägir beim Festmahl versammelt sind, auf das Übelste schmäht und beleidigt. Loki begehrt einen Sitzplatz, der ihm jedoch vom Bragi im Namen der anderen Asen verwehrt wird. Loki erinnert dann Odin daran, daß sie in der Vorzeit miteinander das Blut gemischt und geschworen hätten, niemals Bier zu trinken, wenn es nicht beiden gereicht würde. Odin heißt daraufhin den Widar, aufzustehen und seinen Platz für Loki freizumachen. Widar steht – natürlich schweigend - auf und schenkt dem Loki ein, worauf dieser munter mit seinen Hetzreden fortfährt. Interessanterweise bleibt Widar aber der einzige anwesende Gott, der von Lokis Schmähungen ausgenommen ist. Warum dies so ist, darüber kann man spekulieren. Vielleicht, weil Widar auch seinerseits kein Wort an Loki richtet? Vielleicht auch, weil er eigentlich nicht zu diesem Zyklus gehört. Widar verhält sich wie jemand, dessen Zeit noch nicht gekommen ist. Er ist präsent, aber nicht aktiv. Dies ist im Übrigen durchaus ein Zeichen des Helden, denn auch Grettir oder Beowulf waren in ihrer Jugend passiv und machten erst ab einem bestimmten Alter durch Taten auf sich aufmerksam. Auch kann man das Schweigen als einen Initiationsbrauch zur Vorbereitung der Rache sehen; ein Motiv, welches auch in ähnlicher Form in den Sagas zu finden ist. In der Droplaugarsona saga heißt es von Grímr, daß er niemals lachte, seit sein Bruder Helgi gefallen war. Nachdem Grimr es geschafft hatte, zu seinem Feind zu gelangen und ihn zu erschlagen, lacht er plötzlich bei einer nichtigen Gelegenheit aus vollem Hals.
Wie bei allen Gottheiten, bei denen die Überlieferungslage spärlich ist, wird auch bei Widar diskutiert, ob er denn überhaupt eine kultische Gottheit sei oder vielleicht nur eine literarische Gestalt der mythologischen Eddadichtung, sozusagen eine poetische Ausgestaltung der Racheidee. Für einen Kult sprechen die theophoren norwegischen Ortsnamen Virsu (aus Vidarshof) bei Hamar, hier gibt es auch einen großen Grabhügel, und Viskjol (aus Vidarsskjalf) in Botne am Holmestrand. Letzterer liegt in der Nähe von Tune, das früher Valaskioll hieß und auf Vali verweist. De Vries nahm daher einen lokalen Kult von göttlichen Rächern in Südostnorwegen an.
Widar hat eine Wohnstatt, die uns im Grimnirsmal (Str. 17) nähergebracht wird:
Von Buschwerk überwachsen und hohem Grase
Ist Widars Waldland
Dort kündet der Sohn, vom Pferde herab
Kühn zu rächen den Vater.
Im Vergleich zu den prächtigen Wohnplätzen der anderen Gottheiten, die in den vorhergehenden Strophen genannt werden, nimmt sich Widars Bleibe ziemlich trostlos aus.
Interessant ist ein Vergleich mit dem Havamal, Str. 119, in der geraten wird, den treuen Freund wohl oft zu besuchen, denn „Buschwerk und hohes Gras wachsen auf dem Weg, den niemand wandelt“.
Der Zustand des unbegangenen Weges ist ein Symbol für den Zustand der vernachlässigten Freundschaft. Widars Land ist ebenso vernachlässigt, weil er sich nur dem Rachegedanken verschrieben hat, genau wie Vali, der ungewaschen und ungekämmt, also unter Vernachlässigung der Körperpflege, in den Kampf zieht.
Widars Mutter ist die Riesin Grid (altnord. Gier, Heftigkeit), die in der Edda im Skaldskaparmal (Lehre von der Dichtkunst) im Zusammenhang mit Thors Fahrt zum Riesen Geirröd erwähnt wird. Thor kommt dort an wie ein Friseur, nämlich ohne seinen Hammer, seine Eisenhandschuhe und seinen Stärkegürtel. Grid klärt Thor zunächst über die üble Gesinnung und die Gefährlichkeit Geirröds auf und leiht ihm dann ihre eigenen Eisenhandschuhe und Stärkegürtel sowie ihren Stab Gridarvöl.
Wali
Ebenso wie Widar ist auch Wali ein Rachegott, er gehört aber zum Baldurmythos und rächt seinen Bruder Baldur, nachdem dieser von Hödur mit einem Mistelpfeil erschossen wurde. Die Bedeutung des Namens Wali ist unsicher, eine Herleitung aus wanilo = kleiner Wane, ebenso aus waihalaR = der Streitbare, wurde vorgeschlagen, ist aber nicht eindeutig. Auch Wali ist ein Sohn Odins, seine Mutter ist die Rindr, die im Gylfaginning als Asin genannt wird. Im Eddalied Baldrs draumar (Balders Träume) heißt es (Str. 11):
Die Rind gebiert den Wali im Westhaus;
Der, erst eine Nacht alt, tötet den Mörder.
Nicht wäscht er die Hände, nicht kämmt er das Haar,
bis er den Hödur hebt auf den Holzstoß.
Über das Werben von Odin um die Rindr erfahren wir in der altnordischen Überlieferung nur sehr wenig, bei Saxo Grammaticus in seiner „Gesta Danorum“ dafür umso mehr. Saxo beschreibt, wie Odin von einem finnischen Schamanen geweissagt wird, daß nur ein Sohn, den er mit der Rinda zeugen würde, der Rächer Baldurs werden könne. Da die Rinda Odins Ansinnen aber sehr ablehnend gegenübersteht, setzt er Zauberei ein, um zum Ziel zu gelangen. Diese schändliche Tat hat laut Saxo Odins zeitweilige Verbannung zur Folge. Dieser Mythos ist, wie gesagt, in älteren Quellen nicht näher erwähnt, es handelt sich aber wohl um eine Werbung des Himmelsgottes um die Erde.
Als Rächer an Hödur wird Wali namentlich sonst nur im - allerdings recht jungen – Hyndlilied erwähnt. Jedoch beziehen sich die Verse 32 und 33 der Völuspa sicher auf Wali;
…
Baldurs Bruder ward schleunigst geboren,
denn erst eine Nacht alt, erschlug er den Mörder
Nicht wusch er die Hände, noch kämmt` er das Haar,
eh` Baldurs Feind er bracht` auf den Holzstoß;
…
Ich bin bei Widar schon darauf eingegangen, daß die Konzentration auf den Rachegedanken bei
anderen Lebensbereichen zur Vernachlässigung führt. Jedoch hat die Tatsache, ungekämmt und ungewaschen zu bleiben, etwas von einem Gelübde, wie es zu odinistischen Maskenkriegerbünden paßt, und wie wir es schon von Harald Schönhaar kennen. Harald hatte sich ja als kleiner Gaukönig vorgenommen, ganz Norwegen zu unterwerfen und schwor, sich nicht eher die Haare zu kämmen, als bis er dies vollbracht habe. Dies brachte ihm den wenig schmeichelhaften Beinamen Harald Strubbelkopf, aber schließlich auch ganz Norwegen ein.
Das Motiv der Einnächtigkeit erinnert an den Mythos vom göttlichen Kind, der in vielen Kulturen verbreitet ist und als ein Urmythos bezeichnet werden kann. Der göttliche Rächer ist oft ein Knabe, der von großen Gefahren bedroht wird, aber schon in frühester Kindheit Proben seiner überragenden Kraft gibt. In der griechischen Mythologie fällt uns Herakles ein, der schon als Baby zwei Schlangen erwürgte, die ihm von der Göttin Hera in die Wiege gelegt worden waren. Auch Thors Sohn Magni ist erst drei Tage alt, als er seinem Vater zu Hilfe eilt. Wenn man bedenkt, daß auch junge Männer in Kriegerbünden während der Initiation als eben geborene Kinder betrachtet wurden, ergibt sich eine Verbindung zwischen „Kind“ und „Initiant“ und die zunächst seltsam anmutende Aussage, daß ein neugeborenes Kind gelobt, sich nicht zu waschen und zu kämmen, wird klarer.
Im Lied von Grimnir (Grimnirsmal) werden die Götterwohnungen erwähnt, Str. 6 führt dazu aus:
Das Gehöft ist das dritte, wo die heiteren Götter
Silbern deckten die Säle.
Walascialf heißt es, das kunstreich erbaute,
sich der Ase in Urzeiten.
Der norwegische Ortsname Valascioll (aus Valascialf) ist, ebenso wie Vidarscialf überliefert. Leider wird, anders als in den anderen Versen des Grimnirsmals, die Gottheit nicht namentlich erwähnt, sondern nur vom „Asen“ gesprochen. Snorri weist in seinem Gylfaginning Odin diese Halle zu, dies wird jedoch allgemein als späte Zutat und Interpretation angesehen, da Odin bereits den Palast Glanzheim bewohnt und dieser im Grimnirsmal als fünftes Gehöft ausführlich über drei Strophen beschrieben wird. Wir können also annehmen, daß Walascialf die Behausung von Wali ist und einen der mythologischen Orte darstellt.
Die beiden Halbbrüder Widar und Wali sind nach dem Ragnarök vereint, denn
Widar und Wali wohnen am Göttersitz
Wenn die Lohe Surts erlischt,
wie uns der weise Reise Wafthrudnir im gleichnamigen Lied berichtet.