Odin
Wir sind im Herbst. Der Wind streift durch das Land und fegt die Blätter von den Bäumen. Die Dunkelheit naht früh heran, und die Luft riecht nach Frost. Die Zeit der Einkehr ist gekommen, traute Abende mit Freunden in heimeliger Stube erfreuen das Herz. Es ist aber auch die Zeit des Gedenkens, der Zwiesprache mit den Ahnen und die Zeit des mystischen Erlebens. Es ist die Zeit Odins!
Odin ist wohl der bekannteste der heidnischen Götter und die überlieferten Texte sind zahlreich. Trotzdem oder gerade deshalb ist es aber schwer, die Wesenszüge dieses Gottes klar zu begreifen. Die Vielzahl der Eigenschaften und Funktionen und die sich teilweise widersprechenden Überlieferungen sorgen bei verschiedenen Menschen für ganz unterschiedliche Auffassungen.
Wir wollen versuchen, die Mythen, die sich um die Gestalt Odins ranken, näher zu bringen.
Odin ist der herbstliche und winterliche Sonnengott, der auf den Frühjahrsgott Freyr und den Mittsommersonnengott Baldur folgt, genau wie bei den Erdgöttinnen Gerdr/Freyja, Frigg und Hel einander ablösen. Da im Herbst die Götter sterben (Ragnarök) und die Erde bis zum Erwachen im Frühjahr von den Winterriesen beherrscht wird, ist dies auch die Zeit der Totengottheiten Odin und Hel.
Odin hat viele Namen und reist häufig unerkannt durch die Welten. Charakteristische Merkmale sind sein nachtblauer Mantel (Sinnbild für den nächtlichen Himmel) und sein Schlapphut.
Er reitet auf seinem Pferd Sleipnir, einem achtbeinigen Roß, das den Himmelsumschwung darstellt. Früher wurden Tag und Nacht in je acht Teile unterteilt. Auch Odins Ring Draupnir zeigt die Vergänglichkeit und den Lauf der Zeit an, denn von ihm tropfen in jeder neunten Nacht acht weitere Ringe. Odins Waffe ist sein Speer Gungnir, der, wie Thors Hammer, sein Ziel nie verfehlt. Die Krieger, die in der Schlacht fallen sollen, werden mit diesem Speer gezeichnet. Später, in der Heldensage, taucht diese Symbolik in der Siegfriedssage wieder auf.
Odin ist als Toten- und Schlachtengott häufig erwähnt. Er nimmt die Hälfte der im Kampf Gefallenen mit nach Walhall, wo sich die Krieger jeden Tag im Kampfe üben und als Einherier zum Götterschicksal, dem Ragnarök, auf der Seite der Götter gegen die Riesen kämpfen.
Vielfach ist auch belegt, daß Odin mit Toten spricht und diese sogar erwecken kann. In der älteren Edda wird in der Vegtamskvida, auch Balders draumar genannt, Odins Ritt zu einer Völva, einer toten Seherin, beschrieben. Odin beginnt, ein Wecklied zu singen und die Völva muß ihm Auskunft geben auf seine Fragen. Auch in der Runeneinweihung gewinnt Odin ein Lied, ein Runenzeichen, das ihn befähigt, mit Toten zu sprechen.
In diesen Zusammenhang paßt auch die Wilde Jagd oder das Wilde Heer, deren Anführer Odin ist. Die Wilde Jagd ist ein Totenheer, welches auf Pferden reitet und von Hunden begleitet wird, und das mit dem heulenden Herbststurm durch die Wälder zieht. Diese Jagd ist den ganzen Herbst und Winter unterwegs, besonders jedoch in den Rauhnächten, den zwölf Nächten nach dem Mittwinterfest, in denen das neue Jahr gemacht wird. Zurück geht diese Vorstellung auf kultische Maskenkriegerbünde. Diese Bünde fanden sich zusammen, um eine kultische Trance und Extase zu erleben und ihr Dasein einer Gottheit, meist Odin, zu weihen (Odins Weihekrieger).
Odin ist also auch der Gott der Extase und der kultischen Besessenheit und seine Runeneinweihung hängt ebenfalls damit zusammen. Eine Einweihung ist eine Sache, für die man viel tun muß, sie fällt einem nicht in den Schoß. Der Heiler und Schamane ist ständig um Wissen und Kenntnis bemüht. Auch Odin nimmt viel auf sich. Er hängt neun Tage an einem Baum, setzt sich also der Luft, dem Wind, aus, er ißt und trinkt nicht und erfährt dann schließlich das Geheimnis der Runen. Warum tut er das? Die Frage könnte auch lauten: Warum strebt der Mensch nach Wissen?
Odin ist der Suchende, er ist immer unterwegs, um mehr in Erfahrung zu bringen. Er setzt in einem Wissenswettstreit mit Wafthrudnir sein Haupt zu Pfande, um von der Kenntnis des weisen Riesen zu profitieren. Er ahnt Baldurs Tod voraus und auch den Untergang der Götter beim Ragnarök und unternimmt alles, um dies zu verhindern. Jede seiner Taten dient letztlich diesem Zweck. Im Herbst, zum Ragnarök, tritt Odin schließlich gegen den Fenriswolf an, gegen die Finsternis des Weltalls. Das Maul des Wolfes reicht vom Himmel bis zur Erde und Odin wird von ihm verschlungen. Der Gott Widar, Odins Sohn und genaugenommen seine Wiedergeburt, wie der Name zeigt, besiegt den Wolf und überlebt das Götterschicksal. Odin selbst, als Sinnbild der Herbst- und Wintersonne, stirbt und durchwandert im Winter die Unterwelt, um dann im neuen Jahr verjüngt wiedergeboren zu werden, und tatsächlich ist die Sonne im Winter ja auch nur kurz zu sehen.
Odin ist der Gott der Schamanen, der Gott der Magie und der Runen. Er ist auch der Gott der Dichter und Skalden, denn er bringt nicht nur die Runen, sondern auch den Skaldenmet Odroerir zu den Göttern und Menschen. Dieser Bereich ist der wichtigste Wesenszug von Odin. Seine in der heidnischen Spätzeit stark übersteigerte Funktion als Kriegsgott liegt an der kriegerischen Epoche zur Zeit der Wikinger, ausgelöst durch das gewalttätig vordringende Christentum. Seine Funktion als Allvater ist ebenfalls dadurch begründet. Man wollte die heidnischen Stämme einen und der Eingottreligion Christentum einen heidnischen Herrschergott gegenüberstellen.
Odin ist der Herr der Lieder, die Wildheit des Herbstwindes und der Gott des Sturmes. Wir erfahren ihn an heiligen Orten, wenn der Sturmwind durch kahle Äste fährt und die Schwärze des Nachthimmels uns einhüllt.
In der noch unberührten heidnischen Zeit war Tyr allerdings der Gott der Festigkeit und Sicherheit und auch der Gott der Krieger. Es gibt noch viel an Mythen und Erzählungen über Odin zu berichten, aber dies sollte als erster Eindruck genügen.