Hel
Jeder kennt die Zeit im Jahr! Wir laufen nachmittags durch die Straßen und merken: Immer früher bricht die Dämmerung herein und die Nacht nimmt bei jedem Sonnenlauf wieder einige Minuten des Tages an sich. Es wird Winter!
Dies ist die Zeit der Hel, der Totengöttin der altnordischen Überlieferung.
Um zu verstehen, wer die Hel ist, welche Eigenschaften sie hat und was sie darstellt, ist es wichtig, etwas über den Jahreslauf zu erfahren. Unsere Vorfahren teilten das Jahr in drei Jahreszeiten: den Frühling, den Sommer und Herbst/Winter.
Die letzten beiden betrachteten sie als Einheit. Genauso wie es drei Himmelsgötter gibt, die sich über das Jahr abwechseln, gibt es drei Erdgöttinnen, die über jeweils eine Jahreszeit herrschen. Es sind dies Gerdr bzw. Freya für den Frühling, Frigg im Sommer und Hel im Herbst/Winter. Die Eigenschaften der Jahreszeiten spiegeln sich auch in den Gottheiten wieder. Der Frühling symbolisiert Schönheit, Wachstum und Kraft, der Sommer Reichtum und Fülle und die winterliche Jahreszeit Zurückgezogenheit und Erneuerung.
Die Zeit im Jahr, zu der die Frigg sozusagen das Zepter an die Hel abgibt, liegt zwischen Herbstfest und Winternacht, also im Oktober.
Die nun folgende Jahreszeit steht unter dem Motto des Zurückziehens und Verinnerlichens. Wenn jemand etwas verhehlt, so verbirgt er etwas und genau das taten die Menschen damals. Sie verbargen sich in ihren Häusern, und an langen Winterabenden vor dem prasselnden Kaminfeuer verinnerlichten sie die Erlebnisse des vorangegangenen Sommers.
Heute arbeiten wir gleichmäßig das ganze Jahr über. Viele Menschen jedoch können mit dem Winter und besonders mit den regnerischen Novembertagen wenig anfangen, sondern werden mißmutig und depressiv und haben keinen rechten Spaß am Leben. Dies deutet darauf hin, daß sie einen wesentlichen Teil des Lebens verneinen. Auf die Zeit der Tat, der nach außen gerichteten Unternehmungen, folgt nun die Zeit der Besinnung und der neuen Saat. Versuche wie alpines Skifahren, also, den Winter zu einer Zeit der Tat zu machen, können da wenig nützen. Vielmehr nützt da das Wissen um die Lebensauffassung unserer Vorfahren und deren Überlieferung.
Das Totenreich und ihre Beherrscherin, die beide den Namen Hel tragen, werden verschiedentlich in der Überlieferung erwähnt.
Eine Textstelle gibt es im Gylfaginning, in der die Hel negativ beschrieben wird, ihre Halle hieße "die Feuchte", ihr Teller "Hunger", ihr Knecht "der Langsame" und so weiter. Diese Allegorisierungen passen schon stilistisch nicht in die Dichtung der heidnischen Germanen sondern sind typische Elemente der christlichen Literatur des Hochmittelalters. Sie werden auch allgemein als spätere Zutaten angesehen.
Deutlich wird die Fälschlichkeit dieser Erwähnung auch durch eine Passage, die ebenfalls im Gylfaginning steht und sich auf die Mythologie bezieht. Zur Erinnerung sei dieser Mythos kurz erwähnt: Baldur wird nach der Sommersonnenwende von dem blinden Hödur versehentlich getötet und kommt so in das Reich der Hel. Baldurs Bruder Hermodr reitet zur Hel, um die Herausgabe Baldurs zu erbitten. Er findet ihn auch gesund und munter auf einem Ehrenplatz sitzen. Es ist einsichtig, daß ein Ort, an dem Baldur, der lichteste aller Götter, auf einem Ehrenplatz sitzt, nicht so unangenehm sein kann.
In der Völuspa, einem der ältesten und damit aussagekräftigsten Lieder, wird die Hel als "okolnir d. h. unkalter Ort" beschrieben. Es ist klar, daß einem Volk, welches einer rauhen Witterung ausgesetzt ist, ein lauer, angenehm warmer Ort durchaus freundlich erscheinen muß.
Das Totenreich Hel ist also ein Aufenthaltsort, in den diejenigen kamen, die an Krankheit oder Altersschwäche gestorben waren und in dem diese Menschen die Zeit zwischen zwei Leben verbrachten, damit beschäftigt, ihr altes Leben aufzuarbeiten und sich auf das Neue vorzubereiten. Baldur starb zwar auf eine andere Art, nämlich durch einen Mistelpfeil, aber die Mistel öffnet schon in der keltischen und antiken Überlieferung das Tor zu Unterwelt.
Die Göttin Hel ist die dunkle Erde, das Moor. Sie nimmt das Leben auf und erneuert es. Wie das Moor kann sie den Tod bedeuten, ist aber auch wie das Moor sehr fruchtbar und bringt neues Leben hervor.
Es sei an dieser Stelle auf den Artikel „Der Tod und seine Mythen" unter der Rubrik Lebenskreisfeste verwiesen, in dem auf Totenreiche und Totenkulte eingegangen wird. Wir alle können ein zufriedenes und ausgefülltes Leben wohl nur dann führen, wenn wir Leben und Tod als Teile eines Ganzen erkannt und verstanden haben.